Um das Finanzrisiko bei außerbörslichen Derivaten überhaupt verstehen zu können, muss man erst einmal die beiden Risiko-Dimensionen verstehen:
- Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos
- finanzielle Auswirkungen, wenn das Risiko zur Realität wird
Ich möchte hierzu ein vereinfachtes Beispiel aus dem Versicherungssektor aufzeigen. Nehmen wir einmal an, Ihr neues Smartphone hat 800 Euro gekostet. Durch die Zahlung einer jährlichen Versicherungsprämie von 70 Euro ist Ihr Mobiltelefon dann gegen Diebstahl und Beschädigung versichert. Für die gleichhohe Prämie schließen Sie zusätzlich eine Privathaftpflichtversicherung ab. Die Jahresbeiträge beider Versicherungen sind somit gleich. Die Risiken sind aber komplett anders gelagert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Smartphone geklaut oder beschädigt wird, ist viel höher als dass Sie durch Ihr Verhalten einen großen Haftpflichtschaden verursachen. Dafür können Haftpflichtschäden sogar in die Millionenhöhe gehen, während der finanzielle Schaden beim Smartphone auf den Betrag des Ersatzwertes begrenzt bleibt.
Bei dem Finanzderivate-Risiko sind beide Risiko-Dimensionen sehr schwierig einzuschätzen – sowohl für mich als auch für andere Finanzexperten. Aber offensichtlich auch für Versicherungsunternehmen, die ansonsten sehr erfahren damit sind, Risiken zu bewerten.
Das Derivate-Desaster der AIG
Im Rahmen der Finanzkrise wurden die Ausgleichszahlungen für sogenannte „Credit Default Swaps“ (CDS) so hoch, dass die absichernden Unternehmen gar nicht mehr in der Lage waren, die vertraglich zugesicherten Summen zu bezahlen. Unter den absichernden Unternehmen war auch der größte Versicherer der USA, die American International Group (AIG). AIG hatte im Jahr 2007 noch 7 Milliarden US$ Gewinn ausgewiesen. Im Folgejahr wäre der amerikanische Versicherungsgigant hingegen Pleite gegangen, wenn die US-Regierung AIG nicht mit 85 Mrd. US-Dollar gerettet hätte. AIG hatte offensichtlich viel mehr Risiken versichert, als die Versicherungsgesellschaft sich leisten konnte. Dabei müssen Sie wissen, dass die kreditausfallversichernden Swaps nicht nur zum Zeitpunkt der Fast-Pleite von AIG lediglich ein kleiner Teilbereich des gigantischen Derivatemarkts waren. Auch heute noch gibt es Derivate-Bereiche mit deutlich mehr Volumen, die folglich auch deutlich größere Schäden anrichten können.
Mit Finanzderivaten wird sehr viel spekuliert und ein nur kleiner Teil dient der Absicherung
Wenn die Finanzderivate, also Futures, Optionen, Swaps etc., primär dazu genutzt würden, Risiken abzusichern, und darüber hinaus noch das Volumen der Finanzderivate kleiner wäre, würde ich mir deutlich weniger Sorgen machen. Das zuvor genannte Beispiel der „Credit Default Swaps“ zeigt allerdings, dass es schon reicht, wenn eine Seite sich bezüglich der Risiken verspekuliert. Es ist davon auszugehen, dass es vielen Käufern der „Credit Default Swaps“ tatsächlich um eine Absicherung ihrer festverzinslichen Wertpapiere im Depot ging. Die Probleme lagen also bei den Vertragspartnern auf der Verkäuferseite, also in diesem Fall bei der Versicherungsgesellschaft AIG und weiteren Verkäufern von „Credit Default Swaps“. Letztere hatten die Risiken fatalerweise vollkommen falsch eingeschätzt und meines Erachtens durch Gewinngier jegliche Vorsicht über Bord geworfen.
Der Markt der außerbörslich gehandelten Finanzderivate ist gigantisch
Um Ihnen aufzeigen zu können, wie groß alleine der Markt für die außerbörslichen Finanzderivate ist, muss ich mit Vergleichen arbeiten, denn sonst können Sie sich die gigantischen Beträge, um die es hier geht, gar nicht vorstellen. Die USA hatten ein Bruttoinlandsprodukt von geschätzten 20,8 Billionen US$ im Jahr 2020. Das weltweit gemessene Volumen aller außerbörslichen Derivate betrug hingegen unvorstellbare 606,81 Billionen US$ (Stand: 1. Halbjahr 2020), also mehr als das 29-Fache des US-Bruttoinlandsprodukts und mehr als 157 mal so viel wie alle Deutschen zusammen im Jahr 2020 erwirtschaftet hatten.
Wie groß ist das finanzielle Risiko wirklich?
Oft wird argumentiert, dass nicht das abgeschlossene Derivate-Volumen das tatsächliche Risiko widerspiegelt, sondern nur deren Marktwert, der lediglich bei einem kleinen Prozentsatz des ganzen Derivate-Volumens liege. Ich bin nicht davon überzeugt, dass man das Risiko aus den Finanzderivaten tatsächlich so weit reduzieren kann. Aber nehmen wir einmal an, das Risiko würde wirklich „nur“ in diesem niedrigen einstelligen Bereich liegen, dann könnten Eruptionen an den Derivatemärten dennoch verheerende Wirkungen entfalten. Das möchte ich an dem Beispiel Deutsche Bank aufzeigen, die im Jahr 2016 durch eine drohende Strafzahlung an die USA in Schwierigkeiten kam.
Beispiel Deutsche Bank im Jahr 2016
Am 16.09.2016 war bekannt geworden, dass die Deutsche Bank 14 Milliarden US-Dollar als Entschädigungszahlung im Hypotheken-Streit mit den USA zahlen sollte. Am 30.06.2016 wurde diese Summe auf 5,4 Mrd. US$ reduziert und am 23.12.2016 waren es gerade mal 3,1 Mrd. Dollar, die das Bankhaus tatsächlich in die USA überweisen musste. Vergleicht man dieses Vorgehen mit der Behandlung von VW im Dieselskandal wird der „Schmusekurs“ gegenüber der Deutschen Bank ziemlich deutlich. Die Strafzahlungen, die die Amerikaner VW angedroht hatten, wurden immer weiter gesteigert und das Verfahren ist bis heute nicht endgültig abgeschlossen und zieht sich damit schon über viele Jahre hin. Warum ging man mit der Deutschen Bank so viel versöhnlicher um als mit dem VW-Konzern? Ich glaube, dass der riesige Derivatebestand der Deutschen Bank im Jahr 2016 für die US-Behörden eine Rolle gespielt hatte. Wenn die Deutsche Bank als Vertragspartner bei Derivaten ausgefallen wäre, hätte das auch die US-Finanzwirtschaft massiv in Mitleidenschaft gezogen.
Es gab unterschiedliche Schätzungen, wie hoch das tatsächliche Derivate-Volumen der Deutschen Bank zu dem damaligen Zeitpunkt war. Die seriösen Schätzungen, die ich gelesen hatte, beliefen sich aber immer zwischen 42 und 46 Billionen US$. Ein Finanzexperte, der offensichtlich der Deutschen Bank gegenüber nicht feindselig eingestellt war, wies darauf hin, dass sich viele Kontrakte gegenseitig aufheben würden und damit das tatsächliche Risiko deutlich kleiner sei. Ihm zufolge lagen Ende Dezember 2016 die Marktwerte aller Derivate bei 1.019 Milliarden Euro – also bei 2,43 Prozent des Derivatebestandes (von 42.000 Milliarden Euro). Diese 1,019 Billionen Euro bezeichnete er als das maximale Risiko bei einem Kollateralschaden an Märkten. Rechnet man die 1.019 Mrd. Euro in US$ um (Umrechnungskurs ca. 1,11 Euro/US$ im September 2016), dann wären das immerhin 1.131 Mrd. US$ bzw. 1,131 Billionen US$. Diese Summe wäre damit über 80 mal so groß wie die zuerst angekündigte Strafe von 14 Mrd. US$, die die Deutsche Bank schon in Schwierigkeiten gebracht hätte.
Fazit: Auch wenn die Deutsche Bank nach eigenen Angaben, das eigene Derivate-Volumen zurückgefahren hat, so bleiben die Volumina im Finanzderivate-Bereich insgesamt immer noch erschreckend hoch. Wir können alle nur beten, dass es am Derivate-Markt nicht zu einem Supergau kommt. Es sollte auch eine Warnung sein für die sorglosen Kapitalanleger, die derzeit der festen Überzeugung sind, dass die Finanzmärkte unabhängig von der Realwirtschaft immer weiter nach oben gehen werden und dass die Notenbanken notfalls die Börsen und Anleihemärkte erneut retten könnten.
Ein kleiner Exkurs für das bessere Verständnis von Derivaten:
Früher hatte ich ein Excel-Programm für eine Landesbank geschrieben, um die Kombination von verschiedenen Optionsstrategien in einer Grafik anschaulich darzustellen. Für den Wertpapiervorstand einer großen Genossenschaftsbank hatte ich über Future-Geschäfte ein relativ großes Portfolio über Futures abgesichert. In einer großen Niederlassung einer Bank war ich der zentrale Ansprechpartner für Derivate. Ich weiß also nicht nur aus der Theorie, wovon ich bei Derivaten spreche und ich bin kein Gegner von Optionen & Co.. Ich würde mir nur wünschen, dass man die Derivate kaufmännisch sinnvoll einsetzt, statt damit risikoreich zu spekulieren. Nachfolgend möchte ich ein positives Beispiel aufzeigen, wie zwei Unternehmen über den Abschluss von Future-Kontrakten, also Derivaten, ihre Risiken senken können.
Die absichernde Seite der Finanzderivate
Mit sogenannten Finanzderivaten kann man Risiken herunterfahren. Dann muss man allerdings Geld dafür bezahlen, dass sich das Risiko reduziert. Dann kauft man beispielsweise Optionen. Oder aber man muss auf die Chance, zusätzliche Gewinne zu erzielen, verzichten. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel aufzeigen:
Eine Werft möchte an ein Touristikunternehmen ein neues Kreuzfahrtschiff verkaufen und muss dazu ein konkretes Angebot abgeben. Die Bauzeit dafür beträgt gut zwei Jahre. Um die Kosten für das neue Luxusschiff möglichst genau kalkulieren zu können, will sich die Werft den Preis für den benötigten Stahl vertraglich sichern. Sie braucht in drei Monaten eine bestimmte Menge Stahlbleche, dann in 15 Monaten wieder ein paar Tonnen Stahlblech und in 27 Monaten die nächste Charge Stahlblech. So etwas lässt sich über Future-Kontrakte regeln, die nicht einmal über die Börse gehandelt werden müssen. Als Vertragspartner kann man sich ein Stahlwerk vorstellen, das diese Preise für die benötigten Stahlbleche über die besagten Future-Kontrakte zusichert und damit sind die Preise auch für die vertraglich genannten Zeitpunkte festschreibt. Würden nun nach einer solchen Vereinbarung die Preise für die Stahlbleche dauerhaft steigen, dann hätte die Werft die daraus resultierenden Verluste nicht zu tragen und das Stahlwerk könnte von den höheren Stahlblechpreisen nicht profitieren. Im Falle einer Preisreduzierung der Stahlbleche hätte das Stahlwerk nicht die Verluste zu tragen und die Werft könnte keine Zusatzgewinne durch Kosteneinsparungen erzielen. Dennoch könnten in diesem Fall sowohl das Stahlwerk seine Einnahmen als auch die Werft seine Ausgaben exakt kalkulieren, weil beide die Risiken abgesichert haben.